Ungarische Räterepublik
sozialistischer Staat (1919) / aus Wikipedia, der freien encyclopedia
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Die Ungarische Räterepublik (ungarisch: Magyar Tanácsköztársaság, eigentlich Ungarländische Räterepublik, Magyarországi Tanácsköztársaság), auch Räte-Ungarn oder Kun-Regime genannt, war ein kurzlebiger sozialistischer Staat, der für knapp viereinhalb Monate von 21. März bis zum 1. August 1919 bestand.
Ungarische Räterepublik (Ungarländische Räterepublik) | |||||
Magyar Tanácsköztársaság (Magyarországi Tanácsköztársaság) | |||||
1919 | |||||
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Wahlspruch: Világ proletárjai, egyesüljetek! Deutsch: Proletarier aller Länder, vereinigt euch! | |||||
Räte-Ungarn von Räte-Ungarn besetzt (Slowakische Räterepublik) rumänisch besetzte Gebiete Räte-Ungarns von Frankreich und Jugoslawien kontrolliert | |||||
Amtssprache | Ungarisch | ||||
Hauptstadt | Budapest | ||||
Staats- und Regierungsform | Räterepublik | ||||
Währung | Ungarische Krone | ||||
Errichtung | 21. März 1919 | ||||
Endpunkt | 1. August 1919 | ||||
Nationalhymne | Die Internationale |
Damit war Ungarn nach der Gründung Sowjetrusslands 1917 das zweite Land der Welt, in dem eine kommunistische Partei die Staatsmacht übernehmen konnte. Als deren autonomer Bestandteil existierte über wenige Wochen auch die Slowakische Räterepublik.
Das bisherige Justizwesen wurde aufgelöst und durch ein System von Revolutionstribunalen ersetzt, die eine brutale Klassenjustiz samt Todesstrafen praktizierten. Der vom kommunistischen Kun-Regime begonnene Rote Terror gegenüber vermeintlichen und tatsächlichen politischen Gegnern forderte binnen weniger Wochen mehrere Hundert Todesopfer sowie mehrere Tausend Misshandlungsopfer auf den Gebieten Räte-Ungarns sowie auf den von ungarischen Truppen besetzten slowakischen Gebieten.
Die erste offizielle Staatsbezeichnung, die mit der am 3. April 1919 verkündeten vorläufigen Verfassung angenommen wurde, lautete im Deutschen wörtlich „Ungarländische Räterepublik“ (Magyarországi Tanácsköztársaság).[1] Ähnlich wie bei der im deutschen Sprachgebrauch gemachten Unterscheidung zwischen den Begriffen „ungarisch“ und „magyarisch“, schließt das Adjektiv „ungarländisch“ (magyaroszági) begrifflich alle Staatsbürger Ungarns inklusive der ethnischen Minderheiten mit ein. Es wurde auch in den damaligen Parteinamen der ungarischen Sozialdemokraten und Kommunisten sowie von der sozialistischen Einheitspartei der Räterepublik verwendet. Im Gegensatz dazu bezieht sich das Adjektiv „ungarisch“ (magyar) vor allem auf die ethnischen Ungarn bzw. Magyaren (Vgl. auch das Adjektiv „russländisch“ im Kontext Russlands). Bereits im zeitgenössischen Sprachgebrauch sowie in der späteren Forschung hat sich jedoch die Bezeichnung „Ungarische Räterepublik“ (Magyar Tanácsköztársaság) durchgesetzt.[2] Gelegentlich werden in der Fachliteratur auch die Bezeichnungen Ungarische Sowjetrepublik[3] oder bolschewistisches Ungarn[4] verwendet. In der englischsprachigen Forschung überwiegt hingegen die vom russischen Wort Sowjets abgeleitete Bezeichnung Hungarian Soviet Republic,[5] alternativ wird auch die wörtliche englische Übersetzung Hungarian Republic of Councils genutzt.[6]
In der definitiven, am 28. Juni 1919 verabschiedeten Verfassung wurde die Staatsbezeichnung dann in „Ungarländische Sozialistische Föderative Räterepublik“ geändert (Magyarországi Szocialista Szövetséges Tanácsköztársaság) – was einer wörtlichen Übertragung des offiziellen Landesnamens von Wladimir Lenins bolschewistischem Russland auf Ungarn entsprach. Das Wort Föderal in der Staatsbezeichnung sollte dabei einerseits jenen ethnischen Nationalitäten entgegenkommen, die in den von der neuen Räteregierung beanspruchten Gebieten des früheren großungarischen Königreichs lebten (z. B. Slowaken, Deutsche, Ruthenen). Das Kun-Regime machte damit ein symbolisches Beteiligungsangebot im Sinne von nationalen Autonomierechten nach sowjetrussischem Vorbild. Andererseits verwies das Wort Föderal auch indirekt auf die postulierte Selbstverwaltung im Rahmen des Rätesystems.[7] Von der ungarischen Bevölkerung selbst wurde das Räteregime während der 133 Tage seiner Existenz überwiegend nur als „die Kommune“ bezeichnet,[8] während die weltweite Presse es bereits nach seinem inoffiziellen Staatsführer Béla Kun als „Kun-Regime“ titulierte.[9] Die Begriffe Kun-Regime[10] und Räte-Ungarn[11] haben sich auch in der Geschichtswissenschaft als Kurzbezeichnungen für die Ungarische Räterepublik etabliert.
Nach dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie hatte auch die noch von Kaiser Karl I. eingesetzte ungarische Regierung unter Mihály Károlyi die Selbständigkeit Ungarns als Republik erklärt. Der neue Staat sah sich aber nicht nur mit gewaltigen sozialen und wirtschaftlichen Problemen als Folge des verlorenen Weltkriegs konfrontiert, sondern auch mit den umfangreichen Gebietsforderungen der Tschechoslowakei, Rumäniens und des SHS-Staates, die von den Ententemächten unterstützt wurden. Die Besetzung weiter Teile des einstigen Königreichs Ungarn durch tschechoslowakische, rumänische, jugoslawische und französische Truppen sowie die nationale Verbitterung der Ungarn über diesen „Raub“ ihres historischen Territoriums trugen wesentlich zum Ende der bürgerlich-sozialdemokratischen Regierung Berinkey (Károlyi war inzwischen Staatsoberhaupt geworden) am 21. März 1919 bei.[12] Die Republik, die bisher vom Bürgertum (unter Mitwirkung der Sozialdemokraten) dominiert gewesen war, wurde nun durch eine Räterepublik unter Führung von Sándor Garbai ersetzt. Béla Kun bekleidete in der neuen Räteregierung zwar nur den Posten eines Volkskommissars für Äußeres, erlangte aber schon bald maßgeblichen Einfluss auf die Regierungsgeschäfte.[13]
Nach den in der ersten Aprilhälfte 1919 abgehaltenen Wahlen tagte vom 14. bis zum 24. Juni desselben Jahres der Landesrätekongress der Abgeordneten der Komitate, Städte und Gemeinden, der sich zum höchsten gesetzgebenden Gremium des Landes konstituierte und eine Verfassung beschloss. Banken, Großindustrie, Mietshäuser und Betriebe mit mehr als 20 Angestellten verstaatlicht wurden. Grundbesitz über 100 Joch wurde enteignet und in landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften organisiert.
Die Ungarische Räterepublik brach zusammen, als rumänische Truppen im Ungarisch-Rumänischen Krieg die Hauptstadt Budapest besetzten. Nachfolgestaat wurde das Königreich Ungarn unter Reichsverweser Miklós Horthy. Ehemalige Funktionäre, Anhänger und Sympathisanten des Rätesystems, aber auch zahllose Unbeteiligte, die Opfer gezielter Denunziation geworden waren, wurden zwischen Sommer 1919 und Ende 1920 während des sogenannten „Weißen Terrors“ von den Truppen Horthys und ihnen nahestehenden Freischärlern (z. B. denen des berühmt-berüchtigten Pál Prónay) zum Teil bestialisch hingerichtet. Schätzungen der Opferzahlen dieses „weißen“ Gegenterrors belaufen sich auf bis zu 5000 Personen.[14]
Allgemeines
Der ungarische Roten Terror (vörösterror) nahm sowohl Formen des gemeinen Verbrechens als auch der politischen, klassenkämpferischen Gewalt an.[15] Historiker rechnen dem Phänomen im Wesentlichen folgende Aspekte hinzu:[16]
- die Urteile der Revolutionstribunale,
- die vom Kun-Regime organisierten Massenverhaftungen von Geiseln,
- das Vorgehen der kommunistischen (roten) Milizen bei der Terrorisierung der Zivilbevölkerung, der Niederschlagung von Streiks und Aufständen sowie bei Terrorakten gegen Geistliche,
- die Raubzüge und Exekutionen der Ungarischen Rote Armee, etwa als Besatzungsmacht der Slowakischen Räterepublik während des Ungarisch-Tschechoslowakischen Krieges.
Positionen innerhalb der Regierung Räte-Ungarns
Innerhalb der Regierung Räte-Ungarns war man sich über das notwendige Ausmaß des Roten Terrors uneins, weshalb die Politik des Kun-Regimes auf diesem Gebiet oft widersprüchlich war und zwischen härteren und milderen Phasen wechselte.[17] So legten Zsigmond Kunfi und die anderen Führer der ungarischen Sozialdemokraten (wie auch die von ihnen kontrollierten Gewerkschaften) vor allem Wert auf den Aufbau eines Verfassungsstaates. Sie lehnten willkürliche Maßnahmen im Rahmen des Roten Terrors daher von Anfang an ab und übten als entschiedene Gegener von Gewaltexzessen scharfe Kritik an den roten Milizen.[18] So erließ der sozialdemokratisch dominierte Revolutionäre Regierungsrat Anfang April ein Dekret, demzufolge alle Mitglieder der Roten Garde standrechtlich hingerichtet werden sollten, wenn sie beim Bestehlen von Zivilisten ertappt würden. Ab Anfang Mai wurden von den Revolutionstribunalen auch erste dahingehende Todesurteile gegen Rotgardisten verhängt und auch vollstreckt.[19]
Die Kommunisten hingegen, insbesondere deren linker Parteiflügel unter Tibor Szamuely, hatten keine Skrupel, extreme Gewalt als legitimes Mittel im politischen Kampf zu betrachten. Für Szamuely und sowie weitere Vertreter wie Ottó Korvin und Mátyás Rákosi waren die bolschewistischen Interpretationen von Wladimir Lenin und Leo Trotzki maßgeblich, die Gewalt als „Hebamme einer neuen Gesellschaft“ glorifizierten und den Pazifismus bestenfalls als „Ausdruck bürgerlicher Sentimentalität“ und schlimmstenfalls als „Krankheit“ verurteilten.[20] Szamuely hatte als Chefstratege der ungarischen Bolschewisten in Moskau bereits am 22. Mai 1918 die Richtung ihrer neuen „ungarisch-bolschewistischen Ideologie“ vorgegeben, als er gegenüber ungarischen Kriegsgefangenen in Sowjetrussland verlautbarte:[21] „Mit Waffen wird die Macht der Tyrannen in euren Händen liegen... Vergesst nie, dass man diese Macht nutzen muss. Das russische Beispiel liegt vor euch; lasst es uns gut lernen! Wer nicht zum Soldaten der Revolution wird, weder hier [in Russland] noch zu Hause [in Ungarn], der ist nicht mit uns – der ist unser Feind. Wir müssen einen gnadenlosen Kampf gegen diese Feinde führen und sie bestrafen [...]. Der Weg zur Revolution ist klar, einfach und direkt. Proletarische Revolutionäre, vorwärts marsch!“[22]
Während Ungarischen Räterepublik hielt Szamuelys „kommunistische extreme Linke“ das vom Kun-Regime praktizierte Ausmaß des Roten Terrors allgemein für unzureichend. Als Verfechter einer „harten Linie“ forderten ihre Vertreter die Anwendung extremer Gewaltmethoden gegen das Bürgertum als Präventivmaßnahme gegen jegliche Konterrevolution.[23] So schrieb Szamuely in der kommunistischen Parteizeitung Vörös Újság („Rote Zeitung“): „Die Konterrevolutionäre rennen überall herum und prahlen; schlagt sie nieder! Erschlagt sie, wo ihr sie findet! Gewännen die Konterrevolutionäre auch nur eine Stunde die Oberhand, würden sie mit keinem Proletarier auch nur das geringste Mitleid kennen. Bevor sie die Revolution ersticken können, ertränkt sie in ihrem eigenen Blut.“[24]
Damit lag der linke Flügel der ungarischen Kommunisten auf einer Linie mit Lenin, der die Radikalisierung des ungarischen Roten Terrors beförderte und verteidigte.[25] Nachdem er mit Tibor Szamuely am 26. Mai 1919 in Moskau bei einer Parade zusammengetroffen war,[26] empfahl Lenin am nächsten Tag Kun in einem Telegramm die Angehörigen der sozialdemokratischen Fraktion innerhalb der ungarischen Einheitspartei „schonungslos“ zu erschießen, falls diese „Schwankungen“ bei ihrer Loyalität gegenüber dem kommunistischen Programm der Räteregierung zeigen sollten. Die gleiche Terrorempfehlung gab Lenin auch in Bezug auf das ungarische Kleinbürgertum ab, denn dies sei „das verdiente Los des Feiglings im Krieg. Ihr führt den einzig legitimen, gerechten, wahrhaft revolutionären Krieg, den Krieg der Unterdrückten gegen die Unterdrücker, den Krieg der Werktätigen gegen die Ausbeuter, den Krieg für den Sieg des Sozialismus.“[27] Als weitere Rechtfertigung für den Terror führte Lenin in seinem Telegram an:
- „Diese Diktatur [des Proletariats] setzt die schonungslos harte, schnelle und entschiedene Gewaltanwendung voraus, um den Widerstand der Ausbeuter, der Kapitalisten, der Gutsbesitzer und ihrer Handlanger zu brechen. Wer das nicht verstanden hat, der ist kein Revolutionär, den muß man seines Postens als Führer oder Ratgeber des Proletariats entfernen.“[28]
Den eigentlichen Beginn des Roten Terrors als eines institutionalisierten, offiziellen Staatsterrors der Ungarischen Räterepublik markiert die Bildung der „Kommission zur Aufrechterhaltung der Ordnung und Disziplin und zur Bekämpfung der Konterrevolutionäre“ am 21. April 1919, zu deren Kommandeur Tibor Szamuely ernannt wurde.[29] Szamuely bekam damit freie Hand, auch unter Umgehung der räte-ungarischen Justiz mit offen terroristischen Maßnahmen gegen tatsächliche oder vermeintliche Regimegegner vorzugehen.[30] Der Rote Terror markiert in der neueren Forschung den Startpunkt (Actio) für einen ungarischen „Bürgerkrieg“, der nach dem Fall des Kun-Regimes vom Weißen Terror (Reactio) fortgeführt, jedoch von diesem noch wesentlich brutalisiert wurde.[31]
Béla Kun selbst vertrat innerhalb der Regierung eine pragmatische Haltung. Sie wurde in erster Linie von der Außenpolitik der Räteregimes bestimmt, andererseits war Kun aber auch ideologisch flexibler als die bolschewistischen Hardliner des linken Parteiflügels. Zwar erklärte auch Kun mit Bezugnahme auf Lenin, dass er „keinen Unterschied zwischen moralischen und unmoralischen Handlungen“ anerkenne, sondern nur den Standpunkt „ob eine Sache gut oder schlecht für das Proletariat ist“.[32] Ebenso war Kun dazu bereit, menschliche Opfer für die Erreichung seiner Ziele in Kauf zu nehmen. Jedoch stand er im Unterschied zu Lenin und dem linken Flügel seiner Partei einer extremen Gewaltanwendung eher ablehnend gegenüber. Erst unter dem Druck der Umstände setzte auch Kun ab Ende Juli vollständig auf die Anwendung von Terrormethoden.[33]
Die Revolutionstribunale
Bereits das erste Dekret des neuen Revolutionären Regierungsrats vom 21. März verkündete für das gesamte Territorium Räte-Ungarns das Standrecht, und damit die Wiedereinführung der Todesstrafe für bewaffneten Widerstand gegen die Rätediktatur. Vier Tage später wurde das bestehende ungarische Justizsystem aufgelöst und durch sogenannte Revolutionstribunale ersetzt.[34] Diese „revolutionären“ Gerichte etablierten sich als neues offizielles Justizwesen Räte-Ungarns in Budapest sowie den Komitats- und Kreisstädten. Sie wurden im Sinne von „Volksgerichten“ hauptsächlich von politisch linientreuen Laienrichtern aus der Arbeiterschaft geleitet,[35] und repräsentierten den Roten Terror im städtischen Raum. Damit standen die Revolutionstribunale für eine vom kommunistischen Regime propagierte politische „Klassenjustiz“[36] und dienten außerdem als Mittel im „Kampf gegen die Konterrevolution“.[37] Insgesamt wurden während der viereinhalb Monate der Räterepublik mehrere Tausend Fälle von „konterrevolutionären Verbrechen“ bei den Revolutionstribunalen angezeigt, wobei in insgesamt 159 Fällen die Todesstrafe verhängt wurde.[38] Die davon auch vollzogenen Todesurteile machen 11 Prozent der Gesamtzahl aller während der Räterepublik gewaltsam ungekommenen Menschen aus.[39]
Laut Eliza Ablovatski (2021) haben die Revolutionstribunale damit einerseits „erschreckende Beispiele für eine brutale revolutionäre Justiz“ geliefert (z. B. Todesstrafen für gewaltlose Verbrechen).[40] Andererseits könne man jedoch nicht alle von diesen Gerichten verhängten Todesstrafen eindeutig dem Roten Terror zuordnen. In manchen Fällten dienten die Urteile auch dem erklärten Bemühen der Räteregierung für Ruhe und Ordnung zu sorgen (z. B. Todesstrafen für Plünderungen durch rote Milizionäre).[41] Ablovatski zufolge lassen sich die von den Revolutionstribunalen gefällten Todesurteile in zwei allgemeine Kategorien einteilen: „In die erste Kategorie fallen die politischen Opfer eines gezielten Terrors oder Klassenkampfes, die wegen Handlungen verurteilt wurden, die sich gegen die Räteregierung richteten. Zur zweiten Gruppe gehören Menschen, die wegen unpolitischer Verbrechen (in einigen Fällen zum Tode) verurteilt wurden, von denen einige im Zusammenhang mit der revolutionären Situation standen, wie etwa Plünderungen.“ Somit erfüllten die „roten Gerichte“ nach Ablovatski zwei Funktionen: „eine revolutionäre, indem sie die Gesellschaft tatsächlich radikal umgestalteten, und eine staatliche, indem sie die Ordnung aufrechterhielten und schützten.“[42]
Massenverhaftungen und Folterungen
Ein weiters Mittel des Roten Terrors waren Geiselnahmen. Diese wurde einerseits willkürlich von den kommunistischen Milizen durchgeführt, z. B. als vermeintliche oder tatsächliche Racheakte, zur Eliminierung politischer Gegner, zur Terrorisierung ganzer sozialer Gruppen oder zur Gelderpressung. Andererseits erhob das Kun-Regime die „kollektive Geiselnahme von namhaften Vertretern der Bourgeoisie“[43] auch zu seiner offiziellen Staatspolitik.[44] Der Historiker György Dalos (2020) bezeichnet diese politischen Aktionen als „zweifelsohne [...] widerwärtigste Praxis, die sie von ihrem russischen Vorbild übernahmen“.[45] In den knapp vier Monaten seines Bestehens organisierte das Kun-Regime zwei Massenverhaftungen zur gezielten Geiselnahme: eine erste, brutalere Aktion im April, und eine zweite, weniger brutale Aktion im Juni.[46]
Die erste Masseninternierung wurde vom Revolutionären Regierungsrat am 19. April 1919 angeordnet und betraf insgesamt 489 Menschen aus der bisherigen sozialen und politischen Elite Ungarns, darunter einige Ex-Minister und Parlamentarier, aber auch Richter, Bischöfe, Schriftsteller und weitere Personen des öffentlichen Lebens. Das Kun-Regime verstand die Geiselnahmen als präventive Maßnahme zur Vermeidung möglicher Aufstände, indem sie potenzielle Konterrevolutionäre oder deren Familien internierte. Ebenso diente die Aktion als Botschaft der neuen linksradikalen Regierung an die Bevölkerung, dass Widerspruch und Widerstand sinnlos seien. Schließlich sollten die Geisel dem Kun-Regime auch als Verhandlungsmasse bei den Gesprächen mit den westlichen Siegermächten der Entente dienen.[47] Der Revolutionäre Regierungsrat beauftragte die Lenin-Jungs unter József Cserny mit der Durchführung der Aktion, und am 21. April begann die Terroreinheit mit den ersten Festnahmen. In den Gefängnissen wurden die Geiseln brutalen Verhörmethoden unterzogen und gezwungen, Hinrichtungen beizuwohnen. Anfang Mai wurden die Haftbedingungen der Geiseln auf Druck der Entente-Siegermächte von der Räteregierung verbessert, und bis Ende Mai bis auf wenige Ausnahmen die meisten Geiseln wieder entlassen.[48]
Die zweite Massenverhaftung folgte dann im Juni und betraf viele der freigelassenen Notabeln, da die Räteregierung befürchtete, diese könnten sich der Konterrevolution anschließen. Diese zweite Welle von staatlichen Geiselnahmen lief jedoch deutlich milder ab als die erste im April.[49] Die Folterung von politischen Gefangenen fanden ab Sommer 1919 auch direkt im Keller des Parlamentsgebäudes statt und wurden ebenfalls von Angehörigen der Lenin-Jungs durchgeführt.[50]
Frauen als Täterinnen
Anders als die späteren weißen Milizen, die Frauen in ihren Reihen nur als Informantinnen einsetzten, spielte eine kleine Gruppe von Frauen eine aktive Rolle beim ungarischen Roten Terror, an dem sie sich als reguläre Soldatinnen von roten Milizen beteiligten. Die beiden bekanntesten unter ihnen, die Rotgardistin Anna Tóth und Manci Fallós von den Lenin-Jungs, machten sich einen Namen als berüchtigte Räuberinnen und Folterinnen. Anna Tóth gehörte der Arbeiterklasse an und war gemeinsam weiteren Angehörigen der Roten Garde an der brutalen Folterung von Lajos Deutsch in Budapest beteiligt. Außerdem plünderte sie in der ungarischen Hauptstadt mindestens zwölf verschiedene Wohnungen aus und beteiligte sich auch an den staatlichen Beschlagnahmungsaktionen in Komitat Somogy. Manci Fallós spielte als „die berühmteste rote weibliche Folterin“ während der Rätediktatur eine maßgebliche Rolle bei der Folterung von politischen Gefangenen im Keller des ungarischen Parlamentsgebäudes. Ihre Opfer bezeichnete Fallós dabei als „Abschaum“ oder „hässliche Gauner“, denen sie „die Augen austechen“ und „die Rippen brechen“ werde, um sie anschließend als Leichen in die Donau zu werfen.[51]
Export des Roten Terrors in die Slowakei
Im Zuge des Ungarisch-Tschechoslowakischen Krieges wurde der Rote Terror des Kun-Regimes auch auf die für 21 Tage bestehende Slowakische Räterepublik (kurz SSR) übertragen. Die Besatzungstruppen Räte-Ungarns – die Ungarische Rote Armee, die Roten Garden und insbesondere die Terrorkommandos der Lenin-Jungs – verübten dabei Kriegsverbrechen gegen die slowakische Zivilbevölkerung sowie an tschechoslowakischen Kriegsgefangenen. So wurde am 21. Juni 1919 in Abwesenheit des örtlichen Müllers von Lešť dessen gesamte Familie ermordet: seine Frau, die Mutter seiner Frau, seine beiden Töchter im Alter von siebzehn und sieben Jahren sowie der Hausdiener der Familie. Am 23. Juni wurde der Landwirt Andrej Tomko in Záhradné von einer ungarischen bolschewistischen Einheit an einen Baum geknüpft und anschließend aus mehreren Gewehrläufen das Feuer auf ihn eröffnet. Am 28. Juni wurde die neunzehn jährige Mária Zdutová in Kokava einer roten Miliz nach Rimavská Sobota entführt und am dortigen Friedhof mit drei weiteren Zivilisten erschossen. Die Leichen wurden anschließend zusammen unter der Erde verscharrt. Am 30. Juni erschossen Soldaten der Ungarischen Roten Armee in Levice drei Bürger, die einer „Sympathie für die Tschechen“ beschuldigt wurden. Am 1. Juli ermordete eine Einheit der Lenin-Jungs beim Verlassen von Prešov den Bauern Andrej Tomáš und dessen Sohn Ján, weil dieser am 28. September 1918 die tschechoslowakischen Truppen in der Stadt begrüßt hatte.[52]
Peter A. Toma (1958) konstatiert:
- „Die [ungarischen] Bolschewisten versuchten, ihre politische Macht in der Slowakei mit Hilfe eines durch systematische Gewaltanwendung erzeugten Zustands der Angst zu festigen. Der Hauch des Verdachts reichte den kommunistischen Organen aus, um Hunderte von Menschen ohne Untersuchung und ohne Anklage zu inhaftieren. Die Verpflegung in den Gefängnissen war unzureichend und ekelerregend. Die Todesstrafe wurde für viele Vergehen verhängt, die in demokratischen Staaten lediglich als Ordnungswidrigkeiten galten. Sogar das Aussprechen der Wahrheit war strafbar, wenn die Fakten eine "alarmierende Nachricht" darstellten. Während des bolschewistischen Einmarsches verschwanden viele Menschen aus der Ostslowakei und kehrten nie wieder in ihre Heimat zurück.“[53]
Zu den Folgen des ungarischen Roten Terrors in der Slowakischen Räterepublik auf die slowakische Gesellschaft erklärt Thomas Lorman (2019):
- „Die Brutalität, die den bolschewistischen Vormarsch begleitete und die sowohl Geistliche als auch tschechoslowakische Patrioten traf, trug ebenfalls zur Angst vor dem Bolschewismus bei. Da viele von Kuns Kommissaren Juden waren, verstärkte der Antisemitismus – verbunden mit der Angst vor dem Bolschewismus – die Unterstützung der slowakischen Katholiken für den neuen tschechoslowakischen Staat.“[54]
Zwischen Religionsfreiheit und Kirchenliquidierung
Einerseits betonte das Kun-Regime bei seiner Religionspolitik von Beginn an, dass Räte-Ungarn gegenüber dem religiösen Glauben streng neutral sein würde und jeder an den Gott glauben könne, an den er wollte.[55] Das Grundprinzip der Trennung zwischen Staat und religiösen Institutionen und die Erklärung von Religion zur Privatsache wurde auch in der endgültigen Verfassung der Ungarischen Räterepublik von 23. Juni 1919 festgehalten.[56] So erklärte der dortige §2 wörtlich: „Die Räterepublik schützt die wahre Gewissensfreiheit der Arbeiter, indem sie die Kirche vollständig vom Staat und die Schulen von der Kirche trennt. Jeder Mensch kann seine Religion frei ausüben.“[57]
Andererseits machte die linksradikale Räteregierung dabei jedoch eine strikte und absolute Unterscheidung zwischen Religion und Kirche. Die religiöse Praxis an sich konnte noch toleriert werden, solange sie ausschließlich innerhalb eines Gotteshauses stattfand. Die Religionsgemeinschaften hingegen mussten aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens ausgeschlossen und eliminiert werden.[58] Die ideologische Grundlage für die antireligiöse Politik des Kun-Regimes bildete der dialektische Materialismus der marxistischen Weltanschauung. Die Religion wird darin im Wesentlichen als ein „schädlicher Aberglaube“ begriffen, der in erster Linie als ein ausbeuterisches Werkzeug der mit dem Kapitalismus verbündeten Kirche diene. Zwar wird die religiöse Einstellung eines Menschen dabei zu dessen Privatsache erklärt, gleichzeitig gilt sie aber als eine „irrtümliche, verführerische und eben deswegen zu korrigierende Ansicht“.[59] Diese religionskritische Haltung von Karl Marx (Religion als „Opium des Volkes“) wurde von Wladimir Lenin im Bolschewismus hin zu einem militanten Atheismus radikalisiert, in dessen Zuge die Religion brachial denunziert wurde.[60] Entsprechend verlautbarte auch das bolschewistische Programm der ungarischen Kommunisten zu Beginn der Räterepublik:
- „Die Partei wird danach trachten, die Verbindung zwischen den ausbeuterischen Klassen und den religiösen Propagandabehörden [sprich: Kirchen] vollkommen zu zerstören, damit die Arbeiterklassen [sic] von religiösen Vorurteilen befreit werden. Sie wird auch danach trachten, eine breit angelegte wissenschaftliche, erzieherische und antireligiöse Propaganda zu entfalten.“[61]
Bereits einen Tag nach seiner Entstehung begann das Kun-Regime mit der Umsetzung seines kirchenpolitischen Programmes. Schon bei ihrer ersten Sitzung am 22. März 1919 wurde von der Räteregierung nicht nur die Trennung der Kirchen vom Staat erklärt und die Aufhebung der Kirchensteuer beschlossen, sondern auch ein „Landesliquidierungsamt für religiöse Angelegenheiten“ (Országos Vallásügyi Likvidáló Hivatal) im Rahmen von Zsigmond Kunfis Volkskommissariat für Bildungswesen geschaffen. Zum Leiter der neuen Behörde wurde von Kunfi der Kommunist Oszkár Fáber ernannt, der als einer der führenden antiklerikalen Denker Ungarns zum maßgeblichen Parteiideologen in Religionsfragen aufstieg. Entsprechend lag die Hauptverantwortung für die Religionspolitik Räte-Ungarns bei Kunfi und Fáber.[62] Letzterer erklärte zu seiner Absicht als Leiter des „Landesliquidierungsamtes“: „Reden wir nicht herum! Ich sage es offen, unser Ziel ist die vollständige Vernichtung der Kirchen!“[63]
Die im bolschewistischen Regierungsprogramm vorgesehene „Kirchenliquidierung“ wurde vom Kun-Regime jedoch weder im ursprünglich geplanten Tempo noch in der ursprünglich geplanten Radikalität umgesetzt. Als Gründe dafür geben Historiker die außenpolitische Lage (Rücksichtnahme auf die Entente-Siegermächte) und die öffentliche Meinung in der Innenpolitik an, aber auch die nur kurze Dauer des Räteregimes.[64] Deshalb – so konstatiert Gabriel Adriányi (1992) – blieb die Religionspolitik des Kun-Regimes „trotz aller Brutalität, voller Widersprüche und Halbheiten“.[65]
Förderung von versuchten Staatsstreichen der österreichischen Kommunisten
Die ungarischen Kommunisten bemühten sich im Sinne einer bolschewistischen „Weltrevolution“ auch ihre Schwesterparteien in den Nachbarstaaten Räte-Ungarns zu unterstützen. Ihr größter Fokus lag dabei auf (Deutsch-)Österreich, dem man eine entscheidende Rolle für das Überleben des eigenen kommunistischen Regimes zumaß. Die politische Zukunft der Ungarischen Räterepublik hing vorrangig von der Stärke ihrer Streitkräfte ab, und das Waffenarsenal der früheren k.u.k. Armee, das der österreichischen Regierung zur Verfügung stand, galt dem Kun-Regime als entscheidende militärische Ressource.[66] Außerdem sah Kun einen kommunistischen Umsturz in Österreich auch als den Ausgangspunkt für die Ausweitung der Revolution „bis an die Grenzen Frankreichs“.[67]
In enger Absprache mit Moskau forderte die ungarische Rätediktatur bereits am 22. März 1919, einen Tag nach der Machtübernahme, forderte die das Exekutivkomitee des Wiener Arbeiterrats dazu auf, eine mit Räte-Ungarn verbündete „Räterepublik Österreich“ aufzurufen. Dieser Schritt wurde jedoch von den österreichischen Sozialdemokraten, die sich seit November 1918 an der ersten republikanischen Koalitionsregierung Österreichs beteiligten, abgelehnt. Daraufhin forderte das Kun-Regime die österreichischen Kommunisten (KPDÖ) zum Staatsstreich gegen die demokratische Regierung in Wien auf. Über Elek Bolgár, den Botschafter Räte-Ungarns in Wien, wurde die Kommunistische Partei Österreichs mit Propagandamaterial und großzügigen Finanzmitteln aus Räte-Ungarn ausgestattet. Am 18. April 1919 erfolgte dann die Stürmung des österreichischen Parlaments durch einige Hundert österreichische Kommunisten, die das Gebäude in Brand steckten. Der kommunistische Aufstand wurde durch herbeigerufene regierungstreue Milizen der österreichischen Sozialdemokraten sowie durch Polizeieinheiten niedergeschlagen, wobei die Schießerei auf Seite der österreichischen Regierung sechs Tote Sicherheitskräfte forderte.[68]
Einen Monat später startete eine weitere ungarische Initiative für einen politischen Umsturz in Wien, als Belá Kuns Gesandter Ernst Bettelheim in der österreichischen Hauptstadt eintraf. Unter dem Vorwand im Namen der Kommunistischen Internationale zu sprechen, setzte Bettelheim die gesamte Parteiführung der österreichischen Kommunisten ab und beauftragte den neu berufenen Parteivorstand der KPDÖ mit der Planung eines weiteren Putschversuchs. Als Vollzieher dieses zweiten Aufstands sollten ehemalige österreichische Rotgardisten sowie Soldaten des österreichischen Bundesheeres gewonnen werden, die von der drohenden Verkleinerung der österreichischen Streitkräfte betroffen waren. Zusätzlich war auch der Einmarsch von Truppen der Ungarischen Roten Armee in Österreich vorgesehen. Aufgrund des vorzeitigen Verrats der geplanten kommunistischen Verschwörung konnte die österreichische Regierung jedoch im Rahmen einer Razzia in der Nacht vom 14. auf den 15. Juni 1919 die meisten Anführer der österreichischen Kommunisten mit Hilfe von mobilisierten Truppen festnehmen. Als am folgenden Tag bewaffnete Gefechte zwischen Soldaten der Wiener Stadtschutzwache und mehreren Tausend Demonstranten ausbrachen, die versuchten die kommunistischen Häftlinge aus dem Polizeigefängnis zu befreien, forderten die Auseinandersetzungen insgesamt 20 Tote und 80 Verletzte.[69]
Damit waren einerseits die Putschpläne und der Traum des Kun-Regimes von einem starken politischen Verbündeten in der Region endgültig gescheitert, andererseits erlitt auch das internationale Ansehen Räte-Ungarns durch die Affäre einen zusätzlichen Schaden. Dennoch wurden noch bis zu 18.000 österreichische Kommunisten zur Unterstützung des kommunistischen Regimes in Budapest angeworben.[70] Die „verfrühte“ Unterstützung des geplanten kommunistischen Juniaufstands wird in der Forschung auch als ein persönlicher politischer Fehler Béla Kuns gewertet.[71]
Verhältnis zu Sowjetrussland
Aufgrund der Tatsache, dass die neue Räteregierung im März 1919 sowohl aus Kommunisten als auch Sozialdemokraten gebildet wurde, nahm das bolschewistische Russland unter Lenin in den ersten Tagen nach Ausrufung der Ungarischen Räterepublik eine zögernde Haltung gegenüber dem neuen sozialistischen Staat ein. Erst nachdem er sich vergewisserte, dass die Kommunisten den bestimmenden Faktor in der ungarischen Regierung darstellten, pries Lenin ab dem 3. April 1919 den ungarischen Weg der Revolution. Dieser sei ihm zufolge „ungewöhnlich originell“ sowie „unvergleichlich leichter und friedlicher“ abgelaufen als in Russland (der ungarische Rote Terror setzte erst ab Ende April ein). Die ungarischen Arbeiter – so Lenin lobend in seinem Brief – würden der Welt ein noch besseres Vorbild als Sowjetrussland liefern. Auch hatte die Ungarische Räterepublik in ihrer 133-tätigen Periode eine entscheidende strategische Bedeutung für Sowjetrussland. Obwohl alle militärischen Bemühungen eine gemeinsame territoriale Verbindung zwischen den kommunistischen Diktaturen in Budapest und Moskau herzustellen fehlschlugen, diente Räte-Ungarn den russischen Bolschewiki als „Brückenkopf der Weltrevolution“, als „Bollwerk gegen Intervention“ sowie als „Fenster zur Außenwelt“, insbesondere was den Austausch von Informationen über die noch kurzlebigere Münchner Räterepublik betraf.[72]
Typologische Einordnung
Paul Lendvai (1999) bezeichnet in seinem Standardwerk zur Geschichte Ungarns die Ungarische Räterepublik als „kommunistische Diktatur“, „rote Diktatur“ sowie als „bolschewistisches Regime“, und spricht von einem „wütenden Terror[s] in seiner Spätphase“.[73] Thomas Lorman (2019) klassifiziert die Ungarische Räterepublik als „brutale bolschewistische Diktatur“.[74]
Beurteilung des ungarischen Roten Terrors
Opferzahlen
Die genaue Zahl der Todesopfer, die der Rote Terror während der knapp viermonatigen Existenz der Ungarischen Räterepublik gefordert hat, ist nicht bekannt.[75] Als „höchste seriöse Schätzung“ gilt in der kritischen Geschichtswissenschaft – trotz vereinzelt abweichender Maximalangaben[76] – die Zahl von knapp unter 600 Opfern.[77] Sie basiert auf einer Arbeit von Albert Váry, die erstmals 1922 unter dem Titel A vörös uralom áldozatai Magyarorzágon („Die Opfer des roten Regimes in Ungarn“) in Buchform veröffentlicht wurde.[78] Darin führt Váry für die Zeit der Rätediktatur auf Grundlage von Prozessakten insgesamt 590 Todesopfer in Form einer Tabellenliste an, wobei er einige Informationen zu jedem Fall ergänzt: Die Identität des Opfers, des Mörders, den Todestag und -ort sowie (wenn bekannt) Details über die Umstände des Todes.[79] Váry war zeitgleich als stellvertretender Generalstaatsanwalt des Horthy-Regimes tätig und damit für die strafrechtliche Verfolgung der ungarischen Kommunisten verantwortlich.[80] Insofern repräsentiert seine Arbeit die offiziellen Todeszahlen nach „weißen“ Angaben.[81] Dennoch stellt sie die ausführlichste Untersuchung über die Opfer der Rätediktatur dar, und wird auch von kritischen Historikern als „weitgehend unpolemische“[82] und „verhältnismäßig zuverlässige“[83] Quelle anerkannt.[84]
Gleichzeitig geht die Forschung schon seit längerer Zeit davon aus, dass auch die von Váry genannte Zahl von 590 Toten zu hoch angesetzt ist, da man viele der Aufgelisteten nur in seinem sehr allgemeinen Sinn als „Opfer des Roten Terrors“ betrachten könne. So enthält Várys Tabelle neben Menschen, die aus politischen Gründen getötet wurden, auch während der Rätezeit hingerichtete gewöhnliche Kriminelle, außerdem gefallene Soldaten der Ungarischen Roten Armee, die während der Grenzkonflikte mit den Nachbarstaaten ums Leben kamen, sowie Deserteure. De facto rechnet Váry damit zu den Opfern des Roten Terrors sämtliche Menschen, die während des Kun-Regimes gewaltsam ums Leben kamen.[85] Im Jahr 2000 unterzog der ungarische Historiker Gábor Pajkossy die Opferzahl Várys unter Berücksichtigung der angegebenen Todesursachen sowie zusätzlicher Informationsquellen einer Neuauswertung. Die aktuelle Forschung (Stand 2021) geht aufbauend auf diesen Erkenntnissen nun davon aus, bereits „ziemlich verlässliche Schätzungen“ vorlegen zu können.[86] In den berichtigten Angaben geben Historiker die Auflistung Várys von knapp 600 Toten nun höchstens als Maximalangabe an, während sich die Angaben zur Mindestanzahl der Todesopfer des Roten Terrors zwischen 300 bis 400 Toten bewegen.[87] Béla Bodó (2022) gibt außerdem zu bedenken, dass der ungarische Rote Terror neben mehreren Hundert Menschenleben auch die „Misshandlung von tausenden Weiteren“ verantwortete.[88]
Zur Interpretation der Opferzahlen konstatierte frühzeitig bereits János M. Bak (1966), dass auch Zahlen, die von den ursprünglichen Angaben Várys nach unten abweichen, im Verhältnis zu den nur „viereinhalb Monaten der Rätediktatur“ dennoch sehr groß erscheinen. Gleichzeitig stünden diese jedoch in keinem Verhältnis zu den angeblichen Massenmorden, wie sie von den Pamphleten der weißen Geschichtsschreibung beschrieben werden (z. B. in der Arbeit von Ladislaus Bizony: 133 Tage ungarischer Bolschewismus. Wien 1920).[89]
Mitverantwortung für das Ausmaß des ungarischen Weißen Terrors
In seiner Monografie über den ungarischen Weißen Terror von 1919 bis 1921 hält Béla Bodó (2019) fest, dass der Rote Terror während der Ungarischen Räterepublik „sicherlich dazu beigetragen [hat] das Umfeld zu schaffen“, in dem später die Verbrechen des ungarischen Weißen Terrors stattfanden und gerechtfertigt wurden, auch wenn diese insgesamt wenig mit den diesen vorangegangenen kommunistischen Verbrechen zutun hatten.[90] In in einem vorausgegangenen Aufsatz konstatiert Bodó (2018):
- „Die Mehrheit der Opfer des Weißen Terrors war nicht in die Verbrechen des roten Paramilitärs involviert und hatte in der Räterepublik keine Rolle gespielt. Der Rote Terror diente als willkommene Entschuldigung für ethnische und religiöse Gewalt und die Juden wurden zu perfekten Sündenböcken für nationale und individuelle Tragödien gemacht. [...] Der Weiße Terror [...] hätte auch ohne den Roten Terror stattgefunden. Die Gewalt der Paramilitärs und des Mobs während der Konterrevolution war in ihrer Intensität und ihrem Ausmaß aber doch teilweise den gescheiterten demokratischen und kommunistischen Experimenten und der illegalen Gewalt der Lenin-Jungs und anderer linker paramilitärischer Gruppen geschuldet.“[91]
Auch Miklós Molnár (1996) hebt hervor, dass der Weiße Terror „nicht einfach nur eine Reaktion auf den Roten Terror“ war, sondern „tiefere Wurzeln“ hatte. Gleichzeitig habe der Rote Terror der Räterepublik laut Molnár jedoch „unbestreitbar zum Aufschwung des Antisemitismus und des virulenten Antikommunismus beigetragen“.[92] Ebenso färbte auch laut Robert Gerwarth (2016) der Rote Terror auf den Weißen Terror ab, da dieser als erster „die Regeln des ‚zivilisierten‘ militärischen Verhaltenskodes gebrochen hatte“ und den weißen Milizionären das Rechtfertigungsmuster lieferte, der rote „innere Feind“ könne „nur durch eben jene extreme Gewalt gestoppt werden [...], die er selbst während der kurzen Phase des ‚Roten Terrors‘ [...] ausgeübt hatte.“ Gleichzeitig stellt Gerwarth jedoch klar, dass das tatsächliche Ausmaß des Roten Terrors für die weißen Truppen dabei völlig irrelevant war. Die „‚Säuberung‘ des Landes von seinen inneren Feinden“ habe den weißen Milizen von vornherein als unabdingliche Voraussetzung für eine von ihnen erstrebte „nationale Wiedergeburt“ Ungarns gegolten.[93]
Nachwirkungen
Lendvai (1999) betont auch die Bedeutung, die die kommunistische Räterepublik für die Radikalisierung des ungarischen Antisemitismus spielte, dessen Propagandisten das Kun-Regime[94] als „Judenrepublik“ brandmarkten:
- „Während der 133 Tagen […] erschienen aber zum ersten Mal die Juden als Machthaber, als Träger eines internationalistischen, atheistischen und bolschewistischen, das heißt auch prorussischen Regimes. Das brutale Vorgehen der Roten Garden und das Treiben der Revolutionstribunale, vor allem nach der Niederschlagung der sich häufenden Aufstandsversuche und Streiks, kurz der ‚rote Terror‘, wurde in erster Linie den für die innere Ordnung zuständigen Funktionären Tibor Szamuely und Otto Korvin zur Last gelegt. […] beide waren Juden. […] Vergeblich versuchten Vertreter der jüdischen Gemeinde, aber auch gemäßigt-konservative Politiker und unabhängige Autoren nachzuweisen, daß sich die meisten Juden mit dem Bolschewismus nicht nur nicht verbündet hatten, sondern im Gegenteil unter ihnen viele Industrielle, Gutsbesitzer und Gewerbetreibende enteignet, inhaftiert oder als Geiseln verfolgt wurden. Judentum, Kommunismus und ‚roter Terror‘ wurden während der folgenden 25 Jahre unwiderruflich gleichgesetzt.“[95]
Ebenso verortet Lendvai eine starke Instrumentalisierung der Räterepublik auf Seiten von Ungarns Nachbarländern sowie durch das anschließende nationalkonservative Regime Horthys:
- „Sie dauerte bloß 133 Tage und war in Wirklichkeit ein doppeltes Geschenk sowohl an die begehrlichen neuen Nachbarstaaten, die die Zerstückelung des verhaßten Ungarn mit antibolschewistischer Rethorik bemänteln konnten, wie auch an das nachfolgende Regime der autoritären Rechten, die ein Vierteljahrhundert lang Demokratie und Liberalismus mit Bolschewismus und Terror, Kritik mit Verrat identifizierte. Die wirkliche Tragödie lag darin, daß das kurzlebige kommunistische Regime auf den Trümmern der bürgerlichen Revolution errichtet wurde, als ob es eine natürliche, organische Folge davon gewesen wäre.“[96]
Lorman (2019) wiederum beschreibt, wie das Kun-Regime die Angst vor dem Bolschewismus auch in der Tschechoslowakei befeuerte, da die ungarischen Bolschewisten auch in den kurzfristig besetzten Gebieten der Slowakischen Räterepublik gegen Kleriker und Anhänger der Tschechoslowakischen Republik mit brutalen Repressionen vorgingen.[97] Wie in Ungarn habe die Räterepublik auch in der slowakischen Gesellschaft als Motor für einen sich verschärfenden Antisemitismus gewirkt, da viele der Regierungsmitglieder in Kuns Regierung Juden waren.[98] Lorman folgt schließlich der Interpretation von Rebecca Haynes, der zufolge aufgrund der politischen Situation 1919
- „eine Angst vor dem Kommunismus in Zentraleuropa nicht irrational [war]. Der kommunistischen Machtübernahme in der Sowjetunion [sic!] ‚folgte wenig mehr als ein Jahr später die russische Invasion Polens und die Zerstörung des gerade entstehenden ukrainischen Staates‘, beides neue Nachbarn der Tschechoslowakei. Zusätzlich dazu […] übernahm Béla Kuns bolschewistische Partei kurzzeitig die Macht in Ungarn und fiel im Sommer 1919 in die Slowakei ein.“[99]
Ein Denkmal für die Räterepublik, angelehnt an ein Propagandaplakat derselbigen, steht im Budapester Memento Park. Das unter dem Regime von Miklós Horthy 1934 errichtete, nach dem Zweiten Weltkrieg zerstörte Budapester Nationale Märtyrerdenkmal zum Gedenken an die Opfer des „Roten Terrors“ der Räterepublik wurde 2019 rekonstruiert und wieder eingeweiht.
Monographien, Sammelbänder, Aufsätze
- Eliza Ablovatski: Revolution and Political Violence in Central Europe: The Deluge of 1919. Cambridge University Press, Cambridge 2021, ISBN 978-1-108-97878-1.
- Péter Apor: Fabricating Authencity in Soviet Hungary. The Afterlife of the First Hungarian Soviet Republic in the Age of State Socialism. Anthem Press, London/ New York 2015, ISBN 978-1-78308-419-7.
- János M. Bak: Die Diskussion um die Räterepublik in Ungarn 1919. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Band 14, Nr. 4 (Neue Folge), 1966, S. 551–578.
- Béla Bodó: Die ungarische Räterepublik: Eine „Diktatur des Proletariats“ oder eine proletarische Demokratie? In: Mike Schmeitzner (Hrsg.): Die Diktatur des Proletariats. Begriff – Staat – Revision (= Staatsverständnisse. Band 165). Nomos Verlag, Baden-Baden 2022, ISBN 978-3-8487-8147-8, S. 109–134.
- Béla Bodó: The White Terror. Antisemitic and Political Violence in Hungary, 1919–1921. Routledge, New York 2021 [2019], ISBN 978-1-138-57952-1.
- Győrgy Borsányi: The Life of a Communist Revolutionary, Béla Kun. Columbia University Press, New York 1993, ISBN 0-88033-260-3.
- István Deák: Budapest and the Hungarian Revolutions of 1918–1919. In: The Slavonic and East European Review. Band 46, Nr. 106, 1968, S. 129–140.
- Albert Dikovich, Edward Saunders (Hg.): Die Ungarische Räterepublik 1919 in Lebensgeschichten und Literatur. Publikationen der ungarischen Geschichtsforschung in Wien, Wien 2017, ISBN 978-963-631-245-9. (PDF)
- Andrew C. Janos, William B. Slottman (Hg.): Revolution in Perspective: Essays on the Hungarian Soviet Republic of 1919. University of California Press, Berkeley 1971. (Nachdruck 2021, ISBN 978-0-520-32617-0.)
- Christian Koller, Matthias Marschik (Hg.): Die Ungarische Räterepublik 1919. Innenansichten – Außenperspektiven – Folgewirkungen. Promedia Verlag, 2018, ISBN 978-3-85371-446-1.
- Bennett Kovrig: Communism in Hungary. From Kun to Kádar (= History of Ruling Communist Parties). Hoover Institution Publication, Stanford (Kalifornien) 1979, ISBN 0-8179-7112-2.
- Peter Pastor (Hg.): Revolutions and Interventions in Hungary and Its Neighbor States, 1918–1919 (= War and Society in East Central Europe, Band XX). Columbia University Press, New York 1988, ISBN 0-88033-137-2.
- Iván Völgyes (Hg.): Hungary in Revolution, 1918–1919: Nine Essays. University of Nebraska Press, Lincoln 1971, ISBN 0-8032-0788-3.
- Rudolf L. Tökés: Béla Kun and the Hungarian Soviet Republic. The Origins and Role of the Communist Party of Hungary in the Revolutions of 1918–1919. F.A. Praeger, New York 1967, LOC, OBV. (englische Rezension)
Überblicksdarstellungen
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- Bryan Cartledge: The Will to Survive. A History of Hungary. C Hurst & Co Publishers Ltd., London 2011 [2006], ISBN 978-1-84904-112-6.
- György Dalos: Ungarn in der Nußschale. Ein Jahrtausend und dreißig Jahre. Geschichte meines Lebens. 3., durchgesehene und um ein Kapitel erweiterte Auflage, Verlag C.H.Beck, München 2020, ISBN 978-3-406-75802-7, S. 123–127.
- Janos Hauszmann: Ungarn. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Verlag Friedrich Pustet/ Südosteuropa-Gesellschaft, München/ Regensburg 2004, ISBN 3-7917-1908-4, S. 219–223.
- Jörg K. Hoensch: Geschichte Ungarns 1867–1983. Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart/ Berlin/ Köln/ Mainz 1984, ISBN 3-17-008578-6, S. 87–100.
- Sándor Kurtán, Karin Liebhart, Andreas Pribersky: Ungarn. Verlag C.H.Beck, München 1999, ISBN 3-406-39880-4, S. 74–78.
- Ervin László: The Communist Ideology in Hungary. Handbook for Basic Research. D.Reidel Publishing, Dordrecht 1966, ISBN 978-94-010-3544-6.
- Paul Lendvai: Die Ungarn. Eine tausendjährige Geschichte. 3. Auflage, Goldmann Verlag, München 2001 [1999], ISBN 978-3-442-15122-6, S. 411–414 und 421–424.
- Miklós Molnár: A Short History of the Hungarian Communist Party. Routledge, New York 2019 [1978], ISBN 978-0-367-28725-2.
- István Nemeskürty: Wir Ungarn. Ein Essay über unsere Geschichte. Akadémiai Kiadó, Budapest 1999 [ungarische Originalausgabe 1997], ISBN 978-963-05-7647-5.
- Norbert Spannenberger: Die katholische Kirche in Ungarn 1918–1939. Positionierung im politischen System und „Katholische Renaissance“. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2006, ISBN 978-3-515-08668-4, S. 33–36.
- Die Ungarische Räterepublik (…) (Memento vom 21. Juni 2014 im Internet Archive)
- Hungary Hungarian Soviet Republic (englisch)
- Gyula Borbándi: Die Kulturpolitik der ungarischen Räterepublik (PDF; 1,5 MB), in: Ungarn-Jahrbuch. Zeitschrift für interdisziplinäre Hungarologie. Herausgegeben von Zsolt K. Lengyel, Band 5, 1973, ISBN 3-929906-40-6, S. 171–186.